Im deutschsprachigen Raum findet seit den 1990er Jahren die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Männlichkeit als sozialem Phänomen statt. Kritische Männlichkeitsforschung bezeichnet einen Forschungsbereich der Geschlechterforschung, der danach fragt, wie Männlichkeit bzw. männliche Identität(en) sozial konstruiert werden. In der Theologie gibt es ebenfalls seit den 1990er Jahren vor allem im us-amerikanischen Bereich erste Ansätze, die später auch im deutschsprachigen Raum aufgenommen wurden. Hier liegt der Schwerpunkt kritischer Männlichkeitsforschung auf der Analyse von Geschlechterrollen und Männlichkeitsidealen und setzt sich mit der häufig unsichtbaren Präsenz von Normen hegemonialer Männlichkeit in Kirche und Theologie, Geschichte und Gesellschaft auseinander.
Viele Theolog:innen verstehen kritische Männlichkeitsforschung in Kontinuität zur feministischen Forschung. Der Blick auf das Geschlechterverhältnis eröffnet auch einen Blick auf die Konstruktion von Männlichkeiten und ergibt ein mehrdimensionales Bild. Kritische Männlichkeitsforschung, die sich gemeinsam mit feministischer Forschung als gender criticism versteht, definiert Männlichkeit(en) nicht als essentiell, sondern als relational, variabel, verletzlich, beständig herausgefordert und wandelbar. Kritische Männerforschung begreift den „Mann“ als ein geschlechtliches Wesen (Björn Krondorfer). Dieser Zugang ist selbstkritisch und reflexiv. Die Tatsache, dass eine normative Gendercodierung den Mann als normsetzendes und häufig „körperloses“ Wesen begreift, wird als ein geschlechtertypisches, aber historisch bedingtes Muster verstanden. Wichtig für die Geschlechterforschung ist es, in der Analyse den Prozess in den Blick zu nehmen, der dazu geführt hat, dass die Kategorie Geschlecht als quasi „natürlich“ angesehen wird. Dabei spielen dabei die Sozialisiationsinstanzen Kirche, Schule, Hochschule und Staat eine erhebliche Rolle für deren Legitimation: „Als Aufgabe der Kirchengeschichtswissenschaft ergibt sich die Beschreibung und Analyse der Geschlechter erzeugenden Auffassungs- und Einteilungsprinzipien innerhalb der Kirche, des Religionsunterrichts, der Bildungsarbeit etc.“ (Ute Gause 2006, 89).
Der Fokus biblischer männlichkeitskritischer Exegese liegt auf der Analyse hegemonialer Männlichkeit (mit Bezug auf das Konzept von Raewyn Connell) im antiken gesellschaftlichen Umfeld und der Konstruktion von Männlichkeiten anhand von literarischen Quellen, aber auch von Statuen und anderen bildlichen Darstellungsformen. Untersucht werden Institutionen wie Familie, Religion, Militär, Monarchie, sowie soziale Beziehungen und Rollenmuster, die Darstellung von Gefühlen und Körper-Diskursen. Biblische Männlichkeitsforschung untersucht nicht in erster Linie männliche Gestalten, sondern Genderdynamiken in biblischen Texten, die das gesamte Leben bestimmten.
Literatur:
Connell, Raewyn, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeit, 4. Aufl. Opladen 1999.
Krondorfer, Björn, Die Religion entdeckt den ‚Mann’. Kritische Männerforschung in Religion und Theologie, Schlangenbrut 115 (2011), 35-37.
Gause, Ute, Kirchengeschichte und Genderforschung: eine Einführung in protestantischer Perspektive,
Tübingen 2006.
Creangă, Ovidiu / Smit, Peter-Ben (ed.), Biblical Masculinities Foregrounded, Sheffield 2017.
Von Prof.’in Dr. Claudia Janssen