Ableismuskritische Theologie


Unter Ableismus versteht man die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung und/oder chronischer Erkrankung. Der Ausdruck stammt aus dem Englischen (ableism) und wurde dort von dem Wort able abgeleitet, das mit „fähig/imstande sein“ übersetzt werden kann. Unter Ableismus werden gesellschaftliche Denk- und Handlungsmuster verstanden, die eine bestimmte Form von Körper und Geist hervorbringen, die als perfekt, arttypisch und deshalb für den Menschen in seinem Sein wesentlich und vervollkommnend vorgestellt wird. Behinderung wird aus dieser Perspektive nicht mehr in Differenz zur Norm oder Normalität verstanden, „sondern als zwischenmenschliches und gesellschaftliches Verhältnis, das in Bestimmung von Fähigkeiten seinen Ausdruck findet.“ (vgl. Buchner u.a.). Aus dieser Perspektive wird gefragt: Wer gilt unter welchen Bedingungen als fähig? Demnach ist die Untersuchung von Ableismus, wie diejenige von Sexismus und Rassismus, die Aufdeckung und Kritik an gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen.

Aus der Perspektive einer ableismuskritischen Theologie und Hermeneutik stechen zwei biblische Themenfelder besonders ins Auge:

Zum einen die Verwendung von Behinderung und ihrer „Überwindung“ in den eschatologischen Texten (so z.B. Jes 29,18). Hier wird erstens Behinderung als ein negativer Zustand verstanden, der in der kommenden Welt überwunden sein wird: so werden die Augen der Blinden sehen, die Beine der Lahmen gehen und die Ohren der Gehörlosen hören. Zweitens wird in diesen Zukunftshoffnungen Behinderung metaphorisch verwendet: Blindheit bedeutet dann z.B., dass Menschen die Wahrheit nicht begreifen können oder gar: nicht verstehen wollen. Die Lebenswirklichkeit und –erfahrung z.B. blinder oder gehörloser Menschen kommt in diesen Geschichten kaum zu Wort (vgl. Hecke/Watts Belser).

Zum anderen sind die Auslegungstraditionen von Heilungsgeschichten des Neuen Testaments, zum Teil aber auch die Geschichten selbst, problematisch: Sie vermitteln den Leser:innen das Ideal eines gesunden, uneingeschränkten und voll funktionsfähigen Körpers, dem gegenüber Krankheit und Behinderung ausschließlich als eine Abweichung und ein Mangel erscheinen, die es durch „Heilung“, hier verstanden als Beseitigung der Differenz, zu überwinden gilt. Die Theologin Dorothee Wilhelm nennt Heilungsgeschichten Normalisierungsgeschichten: „Der abweichende Körper wird qua Wunderheilung ein normaler Körper.“ Da müssen die sog. „Krüppel“, die „Tauben“, die „Blinden“, die „Kranken“ per Wunder durch einen Messias zum Status der „Normalen“ emporgeheilt werden. Der gesunde, der makellose Körper als Körpernorm und -normalität bekommen damit auch einen religiösen Status. Erst dadurch wird in der Heilungsgeschichte der kranke Körper zum „abweichenden“, zum „abnormalen“ Körper gemacht. Die christliche Theologie steht hier noch immer am Anfang eines selbstkritischen Reflexionsprozesses und nötigen Umdenkens.

Literatur:

Buchner, Tobias; Pfahl, Lisa; Traue, Boris, „Zur Kritik der Fähigkeiten: Ableism als neue Forschungsperspektive der Disability Studies und ihrer Partner_innen“, in: Zeitschrift für Inklusion 2 (2015), abrufbar unter: https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/273, letzter Zugriff am 1.3.2023.

Grünstäudl, Wolfgang/Schiefer Ferrari, Markus (Hg.), Gestörte Lektüre. Disabiblity als hermeneutische Leitkategorie biblischer Exegese, Stuttgart 2012.

Hecke, Marie; Watts Belser, Julia „Die Augen der Blinden werden sehen“ (Jes 29,18), in: Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. (Hg.), Predigthilfe zum 27. Januar – Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, Licht aus dem Dunkel, Berlin 2017, 26-36.

Krauß, Anne, „‘Und Gott sah, dass der Mensch behindert war – und siehe, es war sehr gut‘. Ulrich Bach und seine Theologie nach Hadamar als theologische Wegbereitung der Inklusion“, abrufbar unter: http://www.zedis-ev-hochschule-hh.de/files/krau__12012014.pdf letzter Zugriff 17.10.2019.

Wilhelm, Dorothee, Wer heilt hier wen? Und vor allem: wovon? Über biblische Heilungsgeschichten und andere Ärgernisse, Schlangenbrut 16, Heft 62 (1998), 10-12.

Siehe andere Literatur auch bei dem Begriff: Disabilitysensible Theologie

von Dr. Marie Hecke

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