„Nichts über uns ohne uns!“, ist der weltweite Leitspruch der Behindertenbewegungen seit Ende der 1960er Jahre. Aus dieser Bewegung sind seit den 1980er Jahren die Disability Studies entstanden. Sie verstehen Behinderung als eine körperliche Differenz, die negativ bewertet wird. Gegenstand der Dis/Ability Studies ist nicht die „Behinderung an sich“, sondern die historisch, soziale, kulturelle Konstruktion von Normalität von Körpern und Anderssein als Behinderung, also das Differenzverhältnis und die Konstruktion von Behinderung/Nicht-Behinderung.
Disability Studies erzählen dagegen eine „andere Geschichte über Behinderung“ (Garland-Thomson), die diese nicht als defizitäre, sondern als produktive Kategorie erschließen und wollen damit einen Perspektivwechsel initiieren.
Seit Nancy Eiesland (USA 1994) und Ulrich Bach (Deutschland 2006) haben die Disability Studies Einzug in die Theologie gefunden und fordern diese zu einem Perspektivwechsel, einem Neudenken von Theologie und Anthropologie; einem Überdenken von Hermeneutik und Interpretation biblischer Texte heraus. Dis/Ability-Sensible Theologie stellt Fragen nach Körperbildern und körperlichen Verfassungen, nach Vorstellungen von Krankheit und Heilung in Theologie und kirchlicher Praxis und entwickelt eine intersektionale Theologie von Leib und Körper, Vulnerabilität und Vielfalt.
In den USA und Großbritannien etabliert sich Disability derzeit als eine Querschnittsdimension der Theologie. In Deutschland gibt es erste Ansätze die z.B. nach neuen Interpretationen und Hermeneutiken für neutestamentlichen Heilungsgeschichten oder nach der Perspektivität der Theologie zwischen Dis/Ability-Sensibilität und Kritik an der Diskriminierung von Menschen mit Behinderung fragen. Religionspädagogisch wird Disability zumeist unter der Fragestellung der Inklusion und der Heterogenität von Lerngruppen verhandelt.
Literatur:
Bach, Ulrich, Boden unter den Füßen hat keiner. Plädoyer für eine solidarisch Diakonie, Göttingen 21986.
Eiesland, Nancy L., Der behinderte Gott. Anstöße zu einer Befreiungstheologie der Behinderung, übersetzt und eingeleitet von Werner Schüßler, Würzburg 2018.
Garland-Thomson, Rosemarie, „Andere Geschichten“, in: Petra Lutz/Thomas Macho/Gisela Staupe/Heike Zirden, Der (Im-)Perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung, Köln 2003, 418-426.
Grünstäudl, Wolfgang/Schiefer Ferrari, Markus (Hg.), Gestörte Lektüre. Disabiblity als hermeneutische Leitkategorie biblischer Exegese, Stuttgart 2012.
Schiefer-Ferrari, Markus, Exklusive Angebote. Biblische Heilungsgeschichten inklusiv gelesen, Ostfildern 2017.
Waldschmidt, Anne, Disability Studies zur Einführung, Hamburg 2020.
von Dr. Marie Hecke